BEHINDERTE FIGUREN BEI VARGAS LLOSA: SYMBOLISCHE
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BEHINDERTE FIGUREN BEI VARGAS LLOSA: SYMBOLISCHE
BEHINDERTE FIGUREN BEI VARGAS LLOSA: SYMBOLISCHE BEDEUTUNG UND FUNKTION IM ROMAN Hausarbeit von Markus Wirnsberger Matrikelnummer 197888 [email protected] zum Hauptseminar HU 52 467 "Vargas Llosa: ausgewählte Romane und Literaturkritik" Dozent: D. Ingenschay veröffentlicht in: www.markus-wirnsberger.de unter dem Titel: "Behinderte Figuren bei Vargas Llosa" Autor: Markus Wirnsberger Jahr: 2005 Reproduzieren und Zitieren ist erlaubt, sofern diese Quelle und der Autor genannt werden. -2- I. INHALTSVERZEICHNIS I. Inhaltsverzeichnis ................................................................................. - 2 - II. Einleitung .............................................................................................. - 3 - III. Auswahl der Figuren, Gemeinsamkeiten und Hypothesen über ihre Funktion ........................................................................................................ - 4 IV. Charakterisierung der einzelnen Figuren ..................................... - 6 - 1. Pedro Tinoco .................................................................................... - 6 - 2. Agustín Cabral ................................................................................. - 9 - 3. Casimiro Huarcaya ....................................................................... - 12 - 4. Saúl Zuratas .................................................................................... - 15 - 5. Cabeza I ......................................................................................... - 20 - V. Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick ................ - 22 - VI. Literaturliste ..................................................................................... - 28 - -3- II. EINLEITUNG Der kleine Muck von Wilhelm Hauff ist zwergwüchsig1. Ernesto Sábato schreibt immer wieder über Blinde2. Die Clara in Isabel Allendes La casa de los espíritus schweigt neun Jahre lang. Die Liste der Beispiele von Menschen, die "anders" sind, ließe sich lange noch fortführen, und auch bei Mario Vargas Llosa finden sich – in den von mir gelesenen Werken3 – einige Behinderte. Was mag den Autor bewegt haben, eine Figur als behindert zu beschreiben? Welche Bedeutung hat ein "Anderssein", eine Behinderung, welche Funktion hat eine Figur mit einer solchen Charakterisierung in einem Roman? In dieser Arbeit sollen einige Antworten auf diese Fragen gegeben werden. Zunächst sollen die für diesen Zweck in Frage kommenden Figuren benannt werden und einige ihnen gemeinsamen Eigenschaften erarbeitet werden. Aufbauend darauf soll eine vorläufige Hypothese für ihre literarische Funktion formuliert werden, um dies im folgenden systematischer mit den einzelnen Figuren abgleichen zu können. Es folgt die Charakterisierung der ausgewählten Figuren mit der Frage nach der symbolischen Bedeutung der Behinderung sowie ihrer Funktion im jeweiligen Roman. In den Schlussfolgerungen schließlich werden die Ergebnisse mit der Hypothese verglichen und eine allgemeine Aussage über die Funktion 1 Boettcher o.J. S. 2 2 Wainerman 1978, S. 13; Hugolini Das sind: Lituma en los Andes, La Fiesta del Chivo, El hablador, La tía Julia y el escribidor, Elogio de la madrastra. Weitere vor längerer Zeit gelesene oder erst angefangene Werke bleiben weitgehend unberücksichtigt (Mayta, La guerra del fin del mundo, Paraíso). 3 -4von behinderten Figuren in Romanen formuliert. Im Ausblick soll aufgezeigt werden, welche weiteren Werke und welche weiteren Aspekte ebenfalls zu betrachten wären. III. AUSWAHL DER FIGUREN, GEMEINSAMKEITEN UND HYPOTHESEN ÜBER IHRE FUNKTION Die oben als Beispiel genannte Blindheit und ihre literarische Funktion ist ein von Kritikern und Literaturwissenschaftlern recht eingehend behandeltes Thema4. Zu anderen Behinderungen bzw. zu behinderten Figuren bei Vargas Llosa gibt es hingegen nur wenig Literatur. Immerhin benennt Alexandra Geiser in einer Kritik zu Lituma die Verschwundenen bei ihrer Eigenschaft als Albino und als "stummer Behinderter". Jana Ziganke spricht sogar vom "kleinen behinderten Papageien", dem "alter ego" des Mascarita5. Das zeigt, dass die in dieser Arbeit behandelte besondere Eigenschaft "Behinderung" durchaus auch von der Kritik unter dieser Bezeichnung erkannt wird, wenigsten mitunter. Dass die Literaturwissenschaft auch andere Begriffe benutzen kann, zeigt etwa Cuervo Hewitt6, die vom "monstruo" spricht. Bevor im folgenden entschieden wird, welche (weiteren) Figuren in den Romanen Vargas Llosas für eine Betrachtung unter dieser Blindheit kann mit Tod in Verbindung gebracht werden (Wainerman 1978, S. 30), der Blinde kann den Vater und dessen Bestrafungsmöglichkeit repräsentieren (Martínez Dacosta 1972, S. 12), das Erblinden kann Kastration und Geschlechtsakt bedeuten (Martínez Dacosta 1972, S. 34), oder auch – nun nicht mehr nach Freud sondern nach Otto Rank – die "symbolische Rückkehr in die Finsternis des Mutterleibes" (Martínez Dacosta 1972, S. 26, FN 24). Blinde Figuren werden vielfach auch im Film dargestellt: "Tanto en literatura como en cine, el rol arquetípico del vidente ha estado generalmente a cargo de un personaje ciego, el que no puede ver el mundo físico pero sí el espiritual, el que puede ver más allá que los simples mortales." (Schmorak o.J.). 4 5 Alexandra Geiser (ohne Jahreszahl) und Jana Ziganke (o.J.) 6 Cuervo Hewitt, 1996 -5Thematik in Frage kommen, soll kurz behandelt werden, was unter Behinderung zu verstehen ist. In einer literaturwissenschaftlichen Arbeit muss keine medizinische Definition des Begriffes "Behinderung" gegeben werden. Es wird als ausreichend erachtet, auf das "Anderssein" der Figuren hinzuweisen, auf ihre Auffälligkeit, auf eine Einschränkung bestimmter Funktionen, sowie auf die Möglichkeit, dass nicht alle diese Merkmale zutreffen müssen. Wir werden angeborenen Behinderungen finden und später erworbene, was für das identifikatorische Potential bedeutsam sein kann. "Un ser diferente que adquiere o nace con un defecto o alguna anormalidad", schreibt Cuervo Hewitt7. Folgende – in diesem Sinn – behinderte Figuren wurden bei Vargas Llosa gefunden: Pedro Tinoco (Lituma): stumm und geistig behindert Agustín Cabral (Fiesta): stumm und bewegungsunfähig Casimiro Huarcaya (Lituma): Albino Saúl Zuratas (Hablador): Mal Cabeza I (Elogio): mehrfach behindert Es fällt auf, dass zweimal stumme Figuren anzutreffen sind. Weitere zwei Figuren würden gar keinen Behindertenausweis erhalten, da keine funktionale Einschränkung vorliegt. Ihre äußerlich sichtbare Andersartigkeit unterscheidet sie jedoch deutlich von den "normalen" Menschen. Der Aspekt ihrer Beziehung zu den anderen entspricht – psychologische gesehen – ziemlich genau der Situation anderer Menschen mit einer sichtbaren und gleichzeitig funktionalen Behinderung; ich nenne dies "optische Behinderung". Ein gemeinsamer Aspekt ist die besondere Verletzlichkeit, die vor allem beim Senador Cabral und bei Pedrito Tinoco zu erkennen ist. 7 Cuervo Hewitt 1996, S. 466, bezogen auf ihre Begrifflichkeit "monstruo" -6Aufgrund der (von mir) gefundenen Figuren und ihren als "Behinderung" bezeichneten Eigenschaften werden im folgenden also vorrangig die Verletzlichkeit, die Rolle als Außenseiter, das identifikatorische Potential sowie die Stummheit als spezifische Behinderung behandelt. IV. CHARAKTERISIERUNG DER EINZELNEN FIGUREN 1. PEDRO TINOCO In einer der ersten Erwähnungen wird gesagt, dass Tinoco "utilísimo" gewesen sei, denn er half beim Ausbau des Polizeipostens8. Etwas später wird erwähnt, dass er auch die Wäsche für die Polizisten wusch, und "se quedaba sentado en una piedra, inmóvil, mirando el vacío. Se estaba así, quieto, ensimismado, pensando en Dios sabe qué"9, womit die geistige Behinderung bereits angedeutet wird, die später – nun vom allwissenden Erzähler – ausdrücklich beschrieben wird: "Desde niño a Pedrito Tinoco le habían dicho alunado, opa, ido, bobo,..." sowie als jemanden, der nicht einmal sprechen gelernt habe.10 Wir sehen also den Gegensatz des einerseits Behinderten, der gleichwohl nützlich, da arbeitsfähig und fleißig ist. Einer in der Wahrnehmung des Lesers mögliche Gleichsetzung von geistiger Behinderung mit einem unsympathischen Wesen wird zusätzlich ausdrücklich entgegengetreten: "terminaba por ganárselos su apacible sonrisa, su espíritu servicial y su llaneza"11. Mögliche 8 Vargas Llosa 1993, S. 39 9 Vargas Llosa 1993, S. 42 10 Vargas Llosa 1993, S. 47, 48 11 Vargas Llosa 1993, S. 47 -7Aggressivität kennt er auch nicht: "Era alguien que no hacía daño a nadie."12 Die Schlichtheit wird noch unterstrichen durch seine innige Freundschaft mit den Vicuñas. "Había entablado con esos delicados animales una relación más entrañable que la que tuvo nunca con alguien de su especie"13. Seine Sprachlosigkeit und die der Tiere bedeuten Verstehen. Der Mensch, der nicht spricht, ähnelt mehr den Tieren als dem Menschen, scheint der Schriftsteller uns zu sagen. Anzumerken ist allerdings, dass an mehreren Stellen hervorgehoben wird, dass Pedro Tinoco sehr wohl versteht, was zu ihm gesagt wird14. Pedro Tinoco ist außerdem Opfer von Gewalt, und zwar nicht nur in der eigentlichen Krimihandlung15, sondern bereits bei der eben erwähnten genaueren Vorstellung, wo beschrieben wird, wie die Militärs ihm den Schädel rasieren, ihn mit dem Schlauch abspritzen und ihn in eine Uniform einschließlich Schuhe stecken.16 Die Gewalt gegen die Vicuñas17 wird durch die oben beschriebene Ähnlichkeit des Pedro Tinoco mit diesen noch bedeutungsvoller, um Vargas Llosa 1993, S. 103. Die Harmlosigkeit wird unterstrichen durch die überwiegende Nennung seines Namens im Diminutiv, eines Namens, der – die Suchfunktion in der elektronischen Fassung machte es mir deutlich – ethymologisch mit den todbringenden Steinigungsinstrumenten des Sendero Luminoso und den ebenfalls todbringenden Steinen der aus der Erde entspringenden Naturgewalt des huayco gegensätzlich verbunden ist. 12 13 Vargas Llosa 1993, S. 50 14 Beispielsweise Vargas Llosa 1993, S. 53, S. 262 Wir treffen auf eine weitere behinderte Nebenfigur, die als mögliches nächstes Opfer in Frage kommt, einen Buckligen, der sagt: "¿No vamos a desaparecer todos, acaso?" (Vargas Llosa 1993, S. 232). 15 Hier wird er auch als notorischer Verschwundener dargestellt, denn er desertiert, allerdings um der Gewalt sich zu entziehen; sein Verschwinden im Rahmen der Krimihandlung ist dem Leser bereits bekannt. 16 Je nach Weltbild/Menschenbild/Tierbild kann dies direkt als Gewalthandlung gesehen werden, als Gewalt gegen Sachen oder als eine bloße Parallelhandlung von Gewalt gegen Menschen. Gleiches gilt für die sexuellen Handlungen an den Tieren in La ciudad y los perros. Zoophilie wird im übrigen in Lituma angedeutet, wo 17 -8dann noch durch eine der eindrücklichsten – mir bekannten – Schilderungen von Gewalt gegen Menschen übertroffen zu werden, wenn Tomás Carreño beschreibt, wie der stumme Pedro Tinoco durch Folter zum Sprechen gebracht werden soll18. Hören wir, was Mario Vargas Llosa selbst zu dieser Figur sagt: "Pedrito Tinoco ist in gewisser Hinsicht eine symbolische Figur, die für diese enorme Menge von Leuten steht, auf die Gewalt ausgeübt wird, die immer wieder als Rechtfertigung für Gewalt benützt wird, ohne jemals konsultiert zu werden oder überhaupt ein Recht auf Stellungnahme zu besitzen. Er ist Leidtragender der Terroristen und der militärischen Repression und wird schließlich auf grausame und absurde Weise geopfert. Sein Opfer ist eine Art Symbol für die Tragödie, die ein ganzes Volk erlebt durch die politische und soziale, aber auch durch die religiöse oder mythische Gewalt. Das ist eine Figur, die mich viel Arbeit gekostet hat, weil sie stumm ist, eine elementare, quasi subnormale Gestalt, die aber einen untrüglichen Instinkt von tiefer Humanität besitzt... Pedrito wird geopfert, um das Unbekannte, Unverständliche zu bekämpfen, eine Form der Sühne, etwas höchst Irritierendes, Empörendes, das aber in der Menschheitsgeschichte zutiefst verwurzelt ist, denn es erscheint in allen Zivilisationen, Kulturen und Glaubensbekenntnissen." 19 Die Behinderung von Pedro Tinoco kann zusammenfassend als ein Instrument gesehen werden, mit dem das Menschsein im Gegensatz zum Tier definiert wird, nämlich durch Geist und – der Schriftsteller kann nicht lassen, uns wenn auch nur implizit darauf hinzuweisen – durch Sprache. Ausdrücklich sagt der Autor (in der zitierten Stelle), dass das Animalische in ihm das Element ist, das die anderen dazu reizt, ihn zu töten. Der geistig Behinderte als atavistisches Opfer, um sich im Menschsein zu bestätigen. Der Gegensatz hier: Sein eigener "Instinkt von tiefer Humanität" rettet ihn nicht, zeigt aber, wieweit seine Mörder in der Geschichte der menschlichen Zivilisation zurückfallen, um eine solche Tat zu vollbringen20. Pedro Tinoco unter strenger Beobachtung der vicuños mit den vicuñas spielen darf (Vargas Llosa 1993, S. 50). 18 Vargas Llosa 1993, S. 69 19 Nierich u. Schumann 1996, S. 7 f. Erst die Mischung aus europäischem Dionysoskult und den präkolombinischen amerikanischen Riten kann die Grausamkeit und einen solchen Rückschritt möglich 20 -9Zum anderen ist der – auch durch das freundliche Wesen als verletzlich dargestellte – Behinderte ein besonders wirkungsvolles Opfer von Gewalt, nach Vargas Llosa selbst sogar ein Symbol von Gewalt. Außerdem stellt die konkrete Behinderung 'Stummheit' eine besondere Verletzlichkeit dar. Denn wer reden kann, könnte der Folter entgehen (durch Verrat oder Klarstellung der Umstände). Wie wichtig Reden für den Schriftsteller Vargas Llosa ist, zeigt sein nur wenige Jahre früher erschienenes Buch: El hablador. 2. AGUSTÍN CABRAL Wie Pedro Tinoco kann der Senador Agustín Cabral nicht sprechen, wohl aber verstehen (allerdings ist sich Urania – und der Leser – dessen nicht ganz sicher)21. Die Vorstellung der Figur beginnt gleich auf der ersen Seite in den Gedanken seiner Tochter Urania: "tu madre estaba en el cielo y tu padre muerto en vida"22. Eine Seite später wird er als "ruina" bezeichnet und uns mitgeteilt, dass Urania seinen Niedergang auf Fotos mitbekommen hat23. Genauer: "Hace diez años en silla de ruedas, sin andar, hablar, dependiendo de una enfermera para comer, acostarse, vestirse, desvestirse, cortarse las uñas, afeitarse, orinar, defecar"; Ursache: "derrame cerebral"24. Der "Cerebrito" machen. Sollte das gar ein Plädoyer für die Reinheit der Kulturen sein, dafür, dass man die indigenen Völker in Ruhe lassen soll? Die mir bekannten Äußerungen Vargas Llosas erhärten eine solche Auffassung nicht. Er stellt diesbezüglich lieber Fragen als Antworten zu geben (Schäffauer 2000, S. 245). 21 "No sabemos si Cabral oye siquiera lo que le dice su hija." schreibt Cueto 2000 22 Vargas Llosa 2000, S. 11 23 Vargas Llosa 2000, S. 12, 13 24 Vargas Llosa 2000, S. 14 - 10 genannte Intellektuelle hat einen Hirnschlag erlitten, der, der im Zentrum der Macht gestanden hatte, ist nun vollkommen ohnmächtig. Agustín Cabral ist offenbar eine erfundene Figur, anders als andere Figuren wie etwa Johnny Abbes García, die Schwestern Mirabal oder die Attentäter25. Die Behinderung ist also nicht biografisch, sondern vom Autor bewusst als Eigenschaft dieser Figur gewählt. Aus welchem Grund wird die Figur in dieser Form entworfen? Ein offenkundiges Anliegen ist der bereits angedeutete Gegensatz zwischen der früheren Machtposition über das In-Ungnade-fallen bis hin zur vollkommenen Ohnmacht des Senators, sowie die Tatsache dass Urania, das frühere Opfer der Vergewaltigung, nun übermächtig, der (Mit-)Täter aber ohnmächtig ist26. Man kann jedoch noch differenzierter argumentieren, indem man die interne Beziehung zwischen der Begegnung Uranias mit ihrem Vater und weiteren Elementen der Erzählung betrachtet: Wir erkennen drei Parallelhandlungen im einseitigen Gespräch, der Folter und der Vergewaltigung. Während ein vollständiger Dialog ein symmetrisches Zwiegespräch von Gedanken und Stimmen ist, ein Duell ein Aufeinandertreffen zweier gleichwertiger Waffen und Sex der Dialog zweier Körper, ist Folter, Vergewaltigung und das Gespräch mit einem verstehenden Stummen eben die einseitige – pathologische oder perverse – Variante desselben, die in La fiesta del chivo in einem Dreieck angeordnet sind. Würde der Senator sprechen können – und hätte die Tochter eine Therapie gemacht – , würde wohl eine Lösung, ein Arrangement zwischen Vater und Tochter gefunden werden, ein Über die man im Internet eine Menge Informationen finden kann, die hier jedoch nicht aufgeführt werden. 25 Auch Ausdrücke wie: " la niña tomada de la mano por su padre" oder "un corazoncito tierno, asustadizo, lacerado, sentimental" (Vargas Llosa 2000, S. 12) betonen die Gewalt, der sie durch diesenVater ausgesetzt wurde. Vertrauen-Verrat und Schutzbedürfnis-Ausgeliefertwerden sind hier die Gegensatzpaare. 26 - 11 Verzeihen wäre möglich. Eine solche Verständigung zwischen Vater und Tochter würde jedoch zu einem Widerspruch mit der wahren – und vom Autor nicht so leicht veränderbaren – historischen Rahmenhandlung führen, denn die Tyrannenmörder bleiben trotz ihres offenkundig gerechten Handelns nicht unbestraft: Das Unverzeihliche würde verziehen, während das Verzeihliche bestraft wird. Um dies zu vermeiden, ist der Senator stumm und damit nicht in der Lage, Versöhnung zu erzeugen. Die Behinderung und Hilflosigkeit des Vater bietet Urania die Möglichkeit, sich zu rächen, was sie allerdings nicht befriedigt. "Una dulce [!?] venganza" aber eben auch: "¿Te sientes desagraviada? 'No'"27. Es handelt sich um eine indirekte Rache, denn Urania hält sich an ihren Vater, der Vergewaltiger selbst wird von Attentätern getötet, an denen sich wiederum der Sohn des Diktators rächt, der später durch das Schicksal (Autounfall) gerichtet wird. Bei so viel Heimzahlung ist La fiesta del chivo auch ein Roman über die Rache. Allerdings gibt es auch eine gewisse Versöhnung: Nach der Ermordung der meisten Attentäter verlässt die Familie Trujillo unter Verzicht auf die Macht das Land und ermöglicht einen demokratischen Neuanfang, mit Joaquín Balaguer, einem Mann des Wortes, an der Spitze. Das Ende der Geschichte aus Uranias Sicht beinhaltet ebenfalls eine gewisse Versöhnung mit dem Land und ihrer Familie: "Yo a tí te voy a querer mucho, tía Urania" sagt ihre Nichte Mariana zum Abschied, und der letzte Satz des Romans, ein Gedanke Uranias, lautet: "'Si Marianita me escribe, le contestaré todas las cartas', decide."28 Diese Versöhnung mit der Familie ist erst möglich geworden dadurch, dass Urania ihr traumatisches Erlebnis erzählt hat29. Worte, Sprachfähigkeit, 27 Vargas Llosa 2000, S. 14 28 Vargas Llosa 2000, S. 518 Mir erscheint die bei der Figur implizit angenommene psychologische "Ein-TraumaTheorie" nicht besonders glaubhaft. Wenn ein Mensch ein so gutes Verhältnis zum 29 - 12 das Weitererzählen der Tat des Vaters ist – wie die Beichte und die Psychotherapie – ein Mittel der Reinigung. Vargas Llosa vermittelt uns diesen Wert der Sprache an mehreren Stellen seines Gesamtwerkes. Hier geschieht es anhand und im Kontrast zu dem stummen Senator, der seine Schuld nun nicht mehr beichten kann. 3. CASIMIRO HUARCAYA "El tener los pelos color paja y unos ojos claros y líquidos había sido una pesadilla para Casimiro Huarcaya en su infancia. Porque en el pueblecito andino de Yauli, donde nació, todos eran morenos, y sobre todo porque sus propios padres y hermanos tenían también los pelos negros, las caras trigueñas y los ojos oscuros."30 Casimiro weist eine rein äußerliche Andersartigkeit auf. Er ist schon als Kind der Außenseiter, genau wie Pedrito Tinoco. Die Abstammung von seinem Vater wird bezweifelt, bis hin zu der – von ihm selbst geförderten – Vermutung, er stamme vom Teufel ab, er sei selbst ein pishtaco: der besonders helle Andersartige repräsentiert die dunkle Macht. Andererseits wird er auch mit Jesus Christus verglichen, da er nach der Hinrichtung wiederauferstanden sei31: Die Andersartigkeit als Zeichen von Göttlichkeit. Die besondere Verletzlichkeit, die gemäß der oben geäußerten Hypothese zur Funktion von behinderten Figuren erwartet wird, ist angesichts der nur äußerlichen Andersartigkeit nicht deutlich zu erkennen, obgleich möglicherweise für den einen oder anderen Leser Vater gehabt hat, dann wird ein einziges negatives Erlebnis – auch wenn es noch so schrecklich ist – nicht solch einschneidende Folgen haben. Eine Reihe von mir bekannten Missbrauchsopfern haben ein viel komplexeres Verhältnis zum Vater, obgleich dieser selbst der Täter und nicht nur der Vermittler war und die Taten in noch viel früherem Alter stattfanden als mit dreizehn/vierzehn. Aus Gründen der Dramatisierung kann ich diese Radikalisierung durch den Autor jedoch akzeptieren. 30 Vargas Llosa 1993, S. 149 31 Vargas Llosa 1993, S. 226 - 13 diese absolute Farblosigkeit dies auch bedeutet. Er wird andererseits aber gerade als stark und trinkfest beschrieben, als jemand, der sein eigenes Geschäft in die Hand nimmt32. Trotzdem gibt es das Spiel Macht-Ohnmacht, Stärke-Schwäche, es beginnt für ihn allerdings – und zwar wegen seiner Andersartigkeit – als besonders Ohnmächtiger bereits im Elternhaus, wo er die schwersten Aufgaben aufgebürdet bekommt und seine Fehler mit Schlägen bestraft werden. Bei Asunta, der jungen Frau, die er schwängert, ist es zunächst umgekehrt, denn sie ist "joven, con trenzas, de cara lozana y asustadiza como un animalito"33. Für das Geschenk eines Schals und eines Paar Schuhe dankt sie ihm, indem sie ihm die Hand küsst34. Diese Machtverteilung wird radikal umgekehrt bei der Wiederbegegnung mit Asunta. Diese trägt nun "pelo cortito, como un hombre. Y, en vez de pollera, un blue-jeans y zapatillas de basquet. Y una escopeta en las manos"35. Bei der (Schein)Hinrichtung würde ihre Hand nicht zittern, ist sich Casimiro sicher36. Wir haben hier das MachtOhnmachtverhältnis zwischen Mann und Frau, das zunächst traditionell ist und dann umgekehrt wird. Der Albino ist Teil dieses Verhältnisses, doch auch außerhalb desselben ist er selbst schwach (ggü. Vater, als untergeordneter Gehilfe des Kaufmanns, als Opfer des Verbrechens) und stark (selbständiger Kaufmann, angstmachender Pishtaco). Vargas Llosa 1993, S. 152 f. Sein erster Chef erleidet übrigens einen Schlaganfall und wird gelähmt und stumm, genau wie der oben behandelte Senador Cabral: eine weitere behinderte Nebenfigur, die das Interesse Vargas Llosas an Behinderung im Allgemeinen und Stummheit im Besonderen unterstreicht. 32 33 Vargas Llosa 1993, S. 153, Erinnerungen an die scheuen Vicuñas werden wach. 34 Vargas Llosa 1993, S. 154, wie der unterwürfige Pedro Tinoco (S. 56). Vargas Llosa 1993, S. 157. Offensichtlich ist hier die literarische Wirkung dieses Wandels von der Unterwürfigen zur Mächtigen für den Autor wichtiger als die psychologische Glaubwürdigkeit der Figur. 35 36 Vargas Llosa 1993, S. 158 - 14 - Die äußere Auffälligkeit dient auch der Wiedererkennbarkeit des Casimiro Huarcaya. Beim Lesen wird deutlich, dass die Menschen ihn wiedererkennen, anders als Asunta, die verschwindet und nicht auffindbar ist37. Im Gegensatz zum dritten Verschwundenen, der seinen Namen ändert, um nicht erkannt zu werden, kann Casimiro Huarcaya sich nicht verstecken; sein Name ist unwichtig. Bei der Wiederbegegnung mit Asunta wird das Erkennen durch sie allerdings als nicht ganz sicher beschrieben: "Ella lo había reconocido también, por lo visto"38. Ebenfalls etwas unwahrscheinlich ist die nur vage Erinnerung des Lituma an den Albino und der Erhalt eines Fotos von dessen Frau39. Ein weiterer Aspekt der Andersartigkeit des Albino könnte in den peruanischen Ethnien liegen. Der Gegensatz weiß-indigen ist für Vargas Llosa stets wichtig gewesen40. In Lituma en los Andes gibt es immer wieder Beschreibungen der Bevölkerung, ihrer Bekleidung, aber auch ihrer Hautfarbe: "piel cetrina" von Tomás Carreño41, "rasgos aindiados pero su piel, blanca y sus ojos muy claros" der Adriana42. Dazu kommt der Gegensatz zwischen den Kulturen der Küste und der Bei den drei Verschwundenen der Krimihaupthandlung besteht der Verdacht, dass sie zu Sendero Luminoso gegangen sind, die verschwundene Asunta tat dies tatsächlich. 37 38 Vargas Llosa 1993, S. 157 Vargas Llosa 1993, S. 39. In einer Gemeinschaft von einhundert, zweihundert Leuten muss einem ein Albino sowohl auffallen als auch in Erinnerung bleiben; eine Unachtsamkeit des Autors, etwa weil diese Eigenschaft erst später hinzukam? 39 "En realidad, la burguesía peruana está conformada fundamentalmente por los elementos de esta clase blanca" (Flores 1993, S. 44; zitiert wird Vargas Llosa in einem Interview mit Elena Poniatowska, das in der Bibliographie von Nélida Flores allerdings von mir nicht gefunden wurde). 40 41 Vargas Llosa 1993, S. 16 42 Vargas Llosa 1993, S. 40 - 15 Anden, z.B. "merecerías haber nacido en la costa" 43oder "en cambio los de la costa son muy sabidos, ¿no?"44. Der Albino kommt aus den Anden, hat jedoch nicht die Hautfarbe der Serranos; er ist weißer als weiß. Und es ist bezeichnend, dass Vertrauen bei den Bergbewohnern gegenüber Lituma entsteht, als sie von Casimiro Huarcaya sprechen (allerdings nicht gleich beim ersten Mal). "Quiere decir que por fin me van a tratar como a serrano"45 kann Lituma sagen, wenn von einem gesprochen wird, dessen Unterschied um vieles größer ist als der Unterschied zwischen costeño und serranos: Man solidarisiert sich untereinander, trotz der Unterschiede, wenn man einen ganz anderen zum Vergleich hat. 4. SAÚL ZURATAS "Era el muchacho más feo del mundo, también, simpático y buenísimo", doch um in diese Arbeit aufgenommen zu werden bedarf es noch mehr: "tenía un lunar morado oscuro, vino vinagre46, que le cubría todo el lado derecho de la cara, [...]no respetaba la oreja ni los labios ni la nariz. [...] 'Me dicen Mascarita, compadre'"47. Der Gegensatz zwischen der äußeren Entstellung und der Freundlichkeit, Offenheit, Einfachheit wird gemeinsam mit dem Mal gleich bei der Vorstellung der Figur erwähnt, und erinnert an Pedrito Tinoco, meist 43 Vargas Llosa 1993, S. 13 44 Vargas Llosa 1993, S. 104 45 Vargas Llosa 1993, S. 228 Schäffauer 2000, S. 255, gibt eine falsche Farbe wieder, als er schreibt: "Mascaritas Gesicht ist gleich dem Perusittich durch ein feuerrotes Mal gezeichnet". Meiner Erinnerung nach wird das "lunar" nirgends als rot bezeichnet. Die anschließend behauptete Analogie mit "Escarlatina", dem scharlachroten dänischen Ethnologen, wäre somit hinfällig. Sie könnte sich allerdings auf die Haarfarbe beider beziehen. Darüber hinaus ist mir nicht nachvollziehbar, warum Escarlatina eine "ins Negative gewendete Mascarita-Figur" sein soll. Auch Mascarita erscheint mir nicht als "positiv"; er wird nur, wie alle Figuren Vargas Llosas, von diesem nur beschrieben, nicht bewertet, was auch für Escarlatina gilt. 46 47 Vargas Llosa 1987, S. 11 - 16 wird er Mascarita – im Diminutiv – genannt, genau wie jener. Die "Behinderung" ist jedoch wie bei Casimiro Huarcaya, dem Albino, rein äußerlicher Natur. Es besteht keine funktionale Einschränkung. "Saúl Zuratas ist in vielem ein Außenseiter"48. Neben dem Mal hat er noch rote Haare und ist Jude, eine in Perú wohl eher seltene Religion. Außenseiter ist er auch in der jüdischen Gemeinde, da er ungläubig ist und Sohn einer christlichen Mutter, zudem einer Frau aus einfachen Verhältnissen. Außenseiter innerhalb der ethnologischen Fakultät, da er auch hier von der rechten Lehre abfällt. Er identifiziert sich mit dem Volk der Machiguenga, ebenfalls Außenseiter im bipolaren Peru zwischen Küste und Anden49. Er ist sogar eine Art Symbol für die Völker des Amazonasgebietes. Der Erzähler meint, Mascarita könne am besten verstehen, was diese Völker innerhalb von Peru bedeuten: "un horror pintoresco, una excepcionalidad que los otros compadecían o escarnecían, pero sin concederle el respeto y la dignidad que sólo merecían quienes se ajustaban en su físico, costumbres y creencias a la 'normalidad'. Ambos eran una anomalía para el resto de los peruanos ... ¿Se había inconscientemente identificado con esos seres marginales debido a su lunar que lo convertía también en un marginal cada vez que ponía los pies en la calle?"50 Eine der Funktionen, die ich in dieser Arbeit den behinderten Figuren zuschreibe, nämlich Außenseiter zu sein, wird hier explizit aufgeführt51. 48 Scheerer 1991, S. 156 Dass Vargas Llosa sich literarisch mehr mit den Amazonasvölkern beschäftigt hat, ist wohl durch seine persönlichen Erfahrungen bedingt, durch Zufall mehr als durch die Bedeutung der Amazonía im Selbstverständnis des Landes. Im Hablador weist der Erzähler auf das Zahlenverhältnis von wenigen Tausend Amazonasbewohner zu Millionen Andenbewohner hin (Vargas Llosa 1987, S. 23). Siehe auch Schäffauer 2000, S. 234 49 50 Vargas Llosa 1987, S. 30 Im übrigen auch parallel zu der Tatsache, dass er Jude ist, Vargas Llosa 1987, S. 30. Scheerer erklärt die Neigung Mascaritas etwas vereinfachend, wenn er schreibt, sie 51 - 17 Bei den Machiguenga hört Mascarita schließlich – folgerichtig – auf, Außenseiter zu sein, denn er wird aufgenommen. Er übernimmt die so wichtige, intime Funktion des "hablador", womit er zu den durch Geheimhaltung geschützten Mitgliedern der Gemeinschaft gehört, also ganz besonders eng aufgenommen wird. Andererseits ist es eine herausragende Funktion, er ist also auch hier nicht einer von vielen. Das Mal dient der Identifizierung des Saúl Zuratas, und zwar in noch viel eindeutigerer Weise als bei dem Albino in Lituma. Bei der Erzählung über Mascarita, nunmehr hablador bei den Machiguenga, jenen, den der Erzähler nicht mehr gekannt hat, "al que ... debo inventar"52, wird auf den allwissenden Erzähler verzichtet. Es ist der Sprachforscher Edwin Schneil, der über einen hablador, den er einmal gesehen hat, erzählt53. Zunächst wird er als Albino, bzw. als Gringo bezeichnet, doch dann: "Tenía un gran lunar"54. Die roten Haare werden ebenfalls als Identifikationsmerkmal genannt, doch die sind weniger eindeutig. Aufgrund der Einzigartigkeit des Aussehens des Mascarita (auch Schneil hat weder vorher noch nachher jemals etwas ähnliches gesehen) ist dem Leser klar, dass es sich um Saúl Zuratas handelt. In der Erzählung geht es aber auch und ganz zentral55 um das Foto. Auch dem Leser wird wichtig, ob der hablador auf dem Foto Mascarita ist. Dadurch wird die Spannung aufrechterhalten, denn so ein Bilddokument hat eine besondere Anziehungskraft. Hier aber wird sei "aus den tiefen Verletzungen, die ihm die westliche Zivilisation zufügt" entstanden. "Diese Erfahrungen lassen ihn die Verletzungen der Eingeborenenkultur verstehen" (Scheerer 1991, S. 157). Zumindest als nicht Betroffener stellt man sich ein derartiges Anderssein erheblich komplexer und tiefgreifender vor, als dass es nur Auswirkungen der Verletzungen (Spott, usw.) gäbe. 52 Vargas Llosa 1987, S. 37 53 Vargas Llosa 1987, S. 173 ff. 54 Vargas Llosa 1987, S. 175 Anfang und Ende, bei einem Musikstück ist der Anfangsakkord (optativ) und der Schlussakkord (obligatorisch) tonartangebend. 55 - 18 die Frage nicht mit Gewissheit geklärt: "Cierto que la figura de pie denota en la cara una sombra más intensa – en el lado derecho, donde él tenía el lunar –, que podría ser clave para identificarlo. Pero, a esa distancia, la impresión puede ser engañosa, tratarse de la mera sombra del sol"56. Auch hier werden viel weniger eindeutige Identifizierungsmerkmale herangezogen wie die Hautfarbe oder der auf dem Foto ebenfalls nicht eindeutig erkennbare Papagai, der im übrigen ebenfalls kein eindeutiges Merkmal ist. Das an sich eindeutige IdentifizierungsmerkMal gibt keine Antwort, das an sich wahrheitstreue Dokument Foto gibt keine Aufklärung: Die –sehr wahrhaftig wirkende – Fiktion der Erzählung endet in der Ungewissheit. Man kann nichts glauben, nicht einmal den Sinnen, aber schon gar nicht einem Erzähler wie Vargas Llosa. Ein eindeutiges Ende würde der impliziten Erkenntnistheorie des Vargas Llosa widersprechen, die darin besteht "die schreibende Wahrheitsforschung als nie ganz gelingenden, aber unaufhörlichen Akt der Auseinandersetzung mit historischen, sozialen und kulturellen Fragen zu versuchen"57 El hablador ist aber auch eine konkrete Reflexion über Behinderung. Mascarita selbst wäre der eugenischen Gewohnheit der Machiguenga, ihre behindert geborenen Kinder zu töten, zum Opfer gefallen: "Yo no hubiera pasado el examen, compadre. A mí me hubieran liquidado"58. Mascarita ist damit wie der Albino einer, der einer Todesstrafe entgangen ist59. Die Geschichte des Papagaien, der ebenfalls Behinderungen aufweist, von seiner Mutter getötet werden soll und vom Hablador 56 Vargas Llosa 1987, S. 230 57 Scheerer 1991, S. 162 58 Vargas Llosa 1987, S. 27 Eine Art unsichtbares Abels- oder Isaacs-Mal? Gleiches gilt auch für Galileo Gall in La guerra del fin del mundo. 59 - 19 gerettet wird, ist eine entgegengesetzte Handlung zur Eugenik der Machiguenga. Wir wollen den Papagai nicht als "behinderte Figur" in diese Arbeit aufnehmen, doch als "alter ego" des Mascarita, dessen Namen er von diesem selbst auch bekommen hat, ist er wohl anzusehen60. Der Hablador lässt die grausame Handlung nicht zu und bringt ein Stück Menschlichkeit zu den Machiguenga61. Die Analogie zwischen Machiguenga und Tieren könnte als Indigenophobie des Autors Vargas Llosa ausgelegt werden. Andererseits sind die Machiguenga bei einer später erworbenen Behinderung sehr tolerant. Mascarita wird bei ihnen aufgenommen, (da sie annehmen, er habe das Mal erst später bekommen, denn nach ihrer eigenen Ideologie hätte er ja nicht überlebt) und sie zollen der Auffälligkeit keine Aufmerksamkeit. In der abendländisch geprägten Hauptstadt hingegen lässt man das behinderte Kind zwar aufwachsen, überhäuft es jedoch mit Schmähungen, Spott und Ausgrenzung: "Tú no entras, monstruo... Con esa cara ... asustas a la gente"62. Die Bewertung der Kulturen fällt unentschieden aus, keine ist durchgängig gut, keine durchgängig schlecht. Vargas Llosa kann hier m.E. der Vorwurf der Indigenophobie nicht gemacht werden: "Yo no lo sabía, yo dudo aún"63 sagt der Erzähler zu der selbst gestellten Frage, ob der Indio es denn in seinem Dorf besser hätte als hier halb angepasst in der Stadt. 60 Jana Ziganke (o. J., Internet) 61 Vargas Llosa 1987, S. 223 f. Vargas Llosa 1987, S. 16. Spott und Ausgrenzung erfährt auch der Albino in den Anden. 62 63 Vargas Llosa 1987, S. 29 - 20 5. CABEZA I64 Cabeza I ist im Prinzip natürlich keine "Figur". Trotzdem wird sie hier aufgenommen, da hier jemand in der ersten Person von sich berichtet, und dabei die eigene Behinderung beschreibt. Wohl wegen dieser eher fantastischen Eigenschaft der Figur trifft die in der Einleitung formulierte Hypothese der besonderen Verletzlichkeit behinderter Figuren auf ihn nicht zu: Er ist nicht nur erotisch erfolgreich, sondern auch schnell auf den Stummeln der Gliedmaßen. Cabeza I hat durch einen Kampf mit einem Menschen ein Ohr verloren, hat die Einschränkung der Sehfähigkeit durch ein Attentat oder durch Bombenkrieg erlitten, die nur als Stummel vorhandenen Gliedmaßen sind durch einen Arbeitsunfall oder durch den Medikamentengenuss der Mutter während der Schwangerschaft beschädigt. Die letzte der fünf Ursachen ist im eigentlichen Sinn "angeboren" und eignet sich nur zu einer Identifikation "a posteriori": "Nur gut, dass das nicht mit mir passiert ist." Die anderen vier genannten Ursachen sind die von erworbenen Behinderungen. Betroffen sind die Sinne, wobei das Sehen ziemlich eingeschränkt ist, das Hören normal, der Geruchsinn dafür aber übermäßig empfindlich: "y es por la nariz por donde más gozo y sufro"65. Wir treffen auch eine "optische Behinderung" an, die gesteigert wird bis in den Ekel. Cabeza I hat Pusteln, die stinken (also nicht nur optisch sind), wenn sie aufgehen, womit sie erinnern an Paul Gauguin und die Folgen seiner "unbeschreibbaren Krankheit" aus El paraíso en la otra esquina. Es handelt sich um ein Bild von Francis Bacon, in Elogio von Vargas Llosa mit dem Titel Cabeza I benannt, von 1948. Es steht vor dem Kapitel "Semblanza de humano", Vargas Llosa 1988, S. 119-125 64 65 Vargas Llosa 1988, S. 122 - 21 "Mi sexo está intacto" kann Cabeza I dem Leser mitteilen66, ganz im Gegensatz zu seinem fast vollständig zerstörten Körper. Er nennt noch einen weiteren Kontrast sowie dessen Herkunft: "En el fondo de su alma, a la bella la fascinó siempre la bestia, como recuerdan tantas fábulas y mitologías"67 Ein weiterer Gegensatz: Wir haben auf der einen Seite Don Rigoberto, der Lust aus Sauberkeitsritualen erwachsen lässt, der alle Unreinheit seines Leibes vernichten will. Auf der anderen Seite die erotische Faszination gerade des Ekligen. Das identifikatorische Potential von Cabeza I (durch die größtenteils erworbenen Behinderungen bereits angelegt) wird zum Abschluss des Kapitels in erstaunlich ausdrücklicher Weise geäußert: "a pesar de las apariencias, formo parte de la raza humana" und: "Mírame bien, amor mío. Reconóceme, reconócete"68. Hier soll offenbar deutlich gemacht werden, dass dies eine Phantasie des Don Rigoberto sei, "mi amor" ist Lucrecia. Durch die Plötzlichkeit des Überganges wird der Leser jedoch zumindest einen Augenblick denken, er selbst solle sich in Cabeza I und dessen Gelüsten erkennen69. Der Hinweis auf die menschliche Rasse macht deutlich: Auch der Behinderte kennt sexuelle Lust, und man könnte hier eine wichtige Aussage des Romanes darin sehen, dass menschlich ist, wer Lust hat, oder: "ich habe Lust, also bin ich", und dass auch eine extreme Entstellung des Körpers die Eigenschaft als Mensch nicht aufhebt70. 66 Vargas Llosa 1988, S. 123 67 Vargas Llosa 1988, S. 124 68 Vargas Llosa 1988, S. 125 Auch in den Dialogen von Lituma provoziert Vargas Llosa beim Leser den Zweifel bezüglich wer mit wem spricht. 69 M.E. ist der Roman deshalb auch hier als ein Plädoyer für die menschliche Lust zu erkennen, was sich auch daran zeigt, dass die Ehe erst zerbricht, als das Geheimnis offenbar wird und Don Rigoberto diese Lust zwischen Alfonso und Lucrecia verbietet. Die auch im Hauptseminar geäußerte Kritik an der Darstellung der pädophilen Beziehung verkennt im übrigen, dass hier ausdrücklich gemacht werden soll, was 70 - 22 Allerdings finden wir hier keine Identifikation mit dem Behinderten wegen dessen Behinderungen (die erworben sind, also jedem Leser auch noch widerfahren könnten), sondern eine Identifikation des menschlichen Lesers mit dem entstellten Menschen über die Erotik. Unsere eingangs formulierte Hypothese über das "identifikatorische Potential" von erworbenen Behinderungen findet sich also nicht bestätigt. Hören wir zum Schluss, was Vargas Llosa zu Cabeza I sagt: "Zuerst habe ich den Text geschrieben, der 'Menschenähnlichkeit' heißt und auf Bacons Bild 'Kopf I' beruht. Das ist eines der Bilder, die mich am meisten beeindruckten. Ich habe es hier in London gesehen, in einer BaconRetrospektive, und es hat einen ungeheuren Eindruck auf mich gemacht, einen wirklich herzerreißenden Eindruck."71 Dieser Eindruck ließe eine mitleidsvolle Darstellung erwarten; angesichts der erotischen Erfolge und der Stärke der Figur ist das allerdings nicht zu erkennen. V. ZUSAMMENFASSUNG, SCHLUSSFOLGERUNGEN UND AUSBLICK Bei der Darstellung der hier behandelten behinderten Figuren bestätigten sich die eingangs vermuteten Eigenschaften: Ohne viele Worte kann eine Figur als Außenseiter und auch als besonders verletzlich dargestellt werden. Die Außenseiterrolle sehen wir insbesondere bei Mascarita und dem Albino, die Verletzlichkeit bei dem Senador Cabral und bei Pedro Tinoco. Der Kontrast zwischen der Behinderung und einer enormen Stärke finden wir bei der Phantasiefigur Cabeza I. Wir haben zudem feststellen können, dass eine äußerlich erkennbare Andersartigkeit oder optische Behinderung laut Psychoanalyse latent vorhanden ist. Das wiederum steht wohl in Verbindung mit der Tatsache, dass die Phantasie ein wichtiger Bestandteil des erotischen Erlebens ist. Bemerkenswert ist noch die erotische Symbolik des Fleischessens. 71 Scheerer 1991, S. 167 - 23 zur Identifizierung der Figur durch die anderen Figuren dienen kann (Albino, Mascarita), was zu einem Verzicht auf den allwissenden Erzähler genutzt werden kann (Mascarita). Die in der Einleitung erwähnte Unterscheidung von angeborener und erworbener Behinderung und die vermutete Bedeutung der letzteren für die Identifikation des Lesers mit den Figuren konnte nicht bestätigt werden. Bei dem Senador Cabral scheint ebensowenig ein identifikatorischen Potential vorzuliegen wie bei dem mit mehreren erworbenen Behinderungen versehenen Cabeza I. Eine solche angestrebte Identifikation findet sich wohl vor allem bei behinderten Figuren in der Kinderliteratur72. Stummheit nimmt dem Individuum einen Teil seiner Menschlichkeit, vielleicht könnte man von einem Verlust der menschlichen Würde sprechen. Der Mangel an Sprachfähigkeit verstärkt den Eindruck der ohnehin schon hervorstechenden Hilflosigkeit von Pedro Tinoco und dem Senador Cabral. Ihre Verletzlichkeit wird ganz spezifisch hervorgehoben, vor allem durch die Verbindung mit der Folter. Dies geschieht bei Pedro Tinoco konkret, denn könnte er sprechen, so könnte er sich der Folter entziehen (die moralische Frage des Verrates unter Folter wird vom Autor ausgeklammert, da eben gar nicht verraten werden kann.) Bei dem stummen Senator besteht die Beziehung zur Folter nur durch die Parallelität des einseitigen Gespräches mit der ebenfalls einseitigen Vergewaltigung und der einseitigen Folter. Auch hier repräsentiert die Stummheit die Wehrlosigkeit des Senators gegenüber den (gerechtfertigten) Vorwürfen der Tochter, so wie sich die Opfer von Vergewaltigung und Folter nicht wehren können. Setzt man die gefundenen Ergebnisse mit den thematischen Schwerpunkten Vargas Llosas in Beziehung, so lassen sich einige recht 72 vgl. Böttcher 2004; J, Rothbucher 2005 - 24 deutliche Bestätigungen finden: Lentzen nennt als die vorherrschenden Themen der – frühen – Romane: Rassen- und Kulturvielfalt73, die sozialen Diskrepanzen in der peruanischen Gesellschaft74 sowie die Gewalt75. Behinderte als besonders geeignete Opfer von Gewalt wurden in dieser Untersuchung gefunden. Die Darstellung sozialer Diskrepanzen durch die Charakterisierung als Außenseiter dieser Figuren ist nicht zu erwarten und wurde auch nicht gefunden. Eine soziale Marginalisierung wird in der Literatur immer wieder ganz buchstäblich dargestellt und benötigt keine symbolische Charakterisierung durch eine Behinderung oder ähnliches. Bei der Rassen- und Kulturvielfalt fanden wir die – zugegebenermaßen etwas labil begründete – Weißheit des Albino als besondere Andersartigkeit. Man möge beurteilen, ob die Rothaarigkeit des Mascarita und (die vermutete Rothaarigkeit) des Escarlatina ein weiterer Hinweis auf Vargas Llosas besonderes Interesse bezüglich dieses Themas sein könnte. Eine vollkommene Arbeit über unvollkommene Menschen würde selbst ein gewisses symbolisches Potential verspielen. Bei der Sichtung der Sekundärliteratur sowie dem Lesen der ersten Seiten76 von La guerra del fin del mundo, fanden wir mehrere behinderte oder wenigsten physisch auffällige Figuren: miope, inválida, Tuerto, tullidas, medio hombre-medio animal77 sind einige der diesbezüglichen Charakterisierungen. Scheerer beschränkt seine Wahrnehmung von Behinderung in diesem Werk auf "die erzählenden oder schreibenden Figuren [, die] mit 73 Lentzen 1996, S. 17 ff 74 Lentzen 1996, S. 24 75 Lentzen 1996, S. 33 ff. weiter bin ich zum Abschluss dieser Arbeit leider nicht gekommen: Vargas Llosa 1981 76 77 Vargas Llosa 1981, S. 18, 20, 21, 29, 52 - 25 einem körperlichen Defekt oder einem Makel versehen [sind]... Sie sind ganz und gar unzulänglich – und doch unentbehrlich für unser geschichtliches Wissen."78 Der Zusammenhang MakelUnentbehrlichkeit scheint recht weit hergeholt, zudem sind offenkundig auch nicht berichtende Figuren mit körperlichen Makeln versehen, und bei dem schreibenden Galileo Gall ist dagegen keine Behinderung erkennbar. Die Position von Cuervo Hewitt bezieht sich darauf, dass die Geschichte der Zerstörung von Canudos mit der "condición humana 'monstruosa' central a la historia de las Américas – a la historia de la humanidad –" zu tun habe79. Allerdings ist auch diese Argumentation über das "vínculo alegórico entre el escritor y el monstruo, la escritura y la monstruosidad"80 auf den ersten Blick ebenfalls nicht besonders einleuchtend. Die Unvollkommenheit dieser Arbeit in dieser Beziehung ist also anzumerken. Der Bedeutung dieser Vielzahl von behinderten Figuren in La guerra del fin del mundo wäre noch eingehender nachzugehen. Was ist in dieser Arbeit noch offen geblieben? Zunächst sind einige weitere behinderte Figuren zu nennen, die unbehandelt blieben: Die blinde Antonia aus La casa verde ist Opfer von Gewalt81. Pedro Camacho aus La tía Julia y el escribidor, "un ser pequeñito y menudo, en el límite mismo del hombre de baja estatura y el enano"82, könnte mit dieser Beschreibung ebenfalls in die Liste behinderter Figuren aufgenommen werden. Bei ihm allerdings scheint die Charakterisierung eher darauf angelegt zu sein, die fiktionale Figur von 78 Scheerer 1991, S. 116 79 Cuervo Hewitt 1996, S. 481 80 Cuervo Hewitt 1996, S. 473 81 Nach Lentzen 1996, S. 39 82 Vargas Llosa 1977, S. 23 - 26 dem realen Vorbild zu unterscheiden, (also das Gegenteil von Identifikation)83. Die "Behinderung" ist für das hier behandelte Thema wenig ergiebig; wäre Pedro Camacho "normal", würde sich nicht viel ändern. Man könnte auch die seelischen Abnormitäten behandeln, die man ja teilweise ebenfalls als Behinderungen betrachten kann. Andererseits scheint die Charakterisierung von Figuren als psychisch krank ein eigenes Thema zu sein. Man könnte auf die von Schriftstellern immer wieder gestellten philosophischen Fragen verweisen: was macht den Menschen zum Menschen?; was ist gut und was ist böse?; und vermuten, dass der psychisch kranke Mensch dies durch Kontrastierung beleuchten kann. Ebenfalls nicht einbezogen wurden die körperlichen Krankheiten. Auch da wäre nach der identifikatorischen Wirkung von Kranken zu fragen. Allerdings erweckt der Eindruck bei der Behandlung der Figuren mit erworbener Behinderung in diesem Sinn nur wenige Erwartungen. Die Möglichkeit: "das könnte mir ja auch passieren" ist wohl eine psychologisch interessante Frage, nicht aber eine literarische. Zum Schluss sei noch auf die Position des Autors gegenüber seinen behinderten Figuren eingegangen: Der "wirklich herzerreißende Eindruck."84, den Vargas Llosa bei der Betrachtung des Bildes "Cabeza I" empfunden hat, ist glaubhaft. Man mag Vargas Llosas politische und wirtschaftspolitische Einstellung nicht teilen und – vielleicht sogar heftig – kritisieren. Seine Menschlichkeit oder Humanismus wird man ihm aber nicht absprechen können, das heißt, er fühlt wirklich so. Trotzdem beschreibt er zutiefst geschädigte Menschen nicht mit was allerdings nicht klappt, vgl. Urquidi 1983, S. 292 f., wo ein Brief Mario Vargas Llosas an seine frühere Frau abgedruckt ist. Dort schreibt er, er habe "el gravísimo error [begangen] de decir en un reportaje, que el personaje estaba inspirado en ..." 83 84 Scheerer 1991, S. 167 - 27 mitleidstriefendem Ton. Das entspricht der Darstellung der anderen Figuren bei diesem Autor, wo auch die abgrundtief bösesten immer nur beschrieben und in die Erzählung eingebettet (und dabei auch benutzt), aber nie bewertet oder gar denunziiert85 werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass hier ein "kleines" Thema der Literaturwissenschaft behandelt wurde, das auch bei Vargas Llosa nur ein nebengeordnetes Thema darstellt. Gleichwohl werden behinderte Figuren nicht zufällig so beschrieben, sondern haben bestimmte Funktionen. Aufgrund des Mangels an Sekundärliteratur zu diesem Thema musste eine recht textimmanente Methode angewandt werden, und so wurden in den Originaltexten der Romane Spuren für diese Funktionen gefunden: Verletzlichkeit und Außenseiterdasein sind durch körperliche Gebrechen oder Auffälligkeiten symbolisch ohne viele Worte darzustellen. Vargas Llosa nutzt diese Möglichkeiten mehrfach. Neben rein "optischen Behinderungen" beschreibt er wiederholt Menschen, deren Verletzlichkeit durch Stummheit betont wird. Andererseits ist für den Schriftsteller eines Romans über einen Hablador die Sprachfähigkeit ein unabdingbares Element des Menschseins. Auch die Inkontinenz von Trujillo ist m.E. keine Denunziation sondern ein menschlicher Zug des von seinem Volk gottgleich verehrten Diktators. Spott oder Verachtung wegen dieser menschlichen Schwäche ist nicht zu erkennen, genauso wenig wie Verherrlichung oder Verteidigung moralisch verwerflichen Tuns. 85 - 28 - VI. 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